Autorin

Kristine Bilkau, 1974 geboren, wuchs in Norddeutschland, in der Nähe Hamburgs auf. Sie studierte Geschichte, Neuere deutsche Literatur und Amerikanistik an der Universität Hamburg und der Tulane University, New Orleans.

Ihr Romandebüt »Die Glücklichen« erschien 2015 und fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihrem Roman »Nebenan« stand sie 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman »Halbinsel« wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

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Kristine Bilkau im Gespräch mit ihrer Lektorin Martina Klüver über „Halbinsel“

Dein neuer Roman »Halbinsel« spielt wie «Nebenan« wieder in Norddeutschland, diesmal an der Nordsee, am Wattenmeer. Was interessiert dich an dieser Landschaft? Welche Bedeutung hat sie für dich?

Die Nordsee ist eine Naturgewalt, mit ihrer Wucht, ihren Gezeiten, ihren Sturmfluten. Die Menschen an den Küsten und in den Marschen schützen sich mit Deichen, Sperrwerken, Sielen und Entwässerungsgräben, trotzdem bleiben sie der See ausgeliefert. Entlang des Wassers lassen sich Geschichten erzählen, von Verletzbarkeit und Widerstandskraft. Mit vielen Geschichten bin ich aufgewachsen, weil große Teile meiner Familie von der Nordsee kommen. Und dann ist da die Weite und Stille des Wattenmeers. Unter blauem Himmel, im Nebel oder in der Dämmerung, das Wattenmeer sieht immer anders aus. Man kann sich dort frei fühlen, aber auch verloren. Annett und Linn, meine Romanfiguren, erfahren beides, das Watt lockt ihre tiefsten Ängste und ihre Stärken hervor. Durch die Erderwärmung und den drohenden Anstieg der Meeresspiegel bekommt die Landschaft eine weitere Dimension. Das prägt vor allem Linn, die fast 25-jährige Tochter meiner Romanfigur Annett.

Du erzählst eine Mutter-Tochter-Geschichte. Annett hat nach dem frühen Tod ihres Mannes Linn allein großgezogen. Linn ist voller Energie ins Leben aufgebrochen, hat für Umweltprojekte gearbeitet, doch kehrt nach einem Zusammenbruch erschöpft in ihr Elternhaus zurück. Um welche Fragen kreisen die beiden?

Im Zentrum der Geschichte steht eine Mutter, die darum ringt, die Zuversicht für ihre Tochter zu retten. Sie befindet sich wieder in der Rolle der Fürsorgenden, vor dieser großen Aufgabe: Wie bringt man ein Kind in diese Welt? Wie bereitet man einen jungen Menschen auf eine Zukunft vor, die man selbst schwer begreifen oder erklären kann? Wie redet man über diese Welt, diese Gegenwart, die von Kriegen, sozialer Ungerechtigkeit, den Folgen der Erderwärmung geprägt ist. Mutter und Tochter sind nun Erwachsene auf Augenhöhe und lernen sich neu kennen. Annett muss feststellen, dass sie viel weniger über ihre Tochter weiß, als sie gedacht hat.

Was unterscheidet die beiden Generationen? Wie schauen beide auf die Herausforderungen, die vor ihnen liegen?

Die Zeit, die Annett und Linn unter einem Dach verbringen, öffnet den Raum für eine Bestandsaufnahme ihrer Beziehung. Schicht um Schicht wird da etwas freigelegt. Beide haben gelernt, in dieser Zweier-Familie perfekt zu funktionieren. Unterschwellig wirkt da ein starker Leistungsdruck. Annett kann Linns Mutlosigkeit und Erschöpfung schwer akzeptieren. Sie möchte ihre tatkräftige und optimistische Tochter zurück. Alles soll so schnell wie möglich wieder gut werden. Doch das ist nicht möglich. Linn wiederum konfrontiert ihre Mutter mit der Frage: Wie ehrlich sprechen Eltern mit ihren Kindern über das, was in der Welt passiert? Wie viel wird dabei verdrängt oder schöngeredet? Linn fordert Aufrichtigkeit. Im öffentlichen und politischen Miteinander, aber auch im privaten Raum, bei ihrer Mutter, gibt es einen deutlichen Mangel an Aufrichtigkeit.

Annetts Tochter engagiert sich beruflich für Umweltschutz. Während eines Vortrags bricht sie zusammen. Woher kommt diese Erschöpfung?

Linn arbeitet für Aufforstungsprojekte, mit denen Firmen, Stiftungen und Investmentfonds Waldbau finanzieren oder riesige Waldgebiete kaufen, um CO2-Zertifikate zu verdienen. Zertifikate, mit denen Unternehmen den Ausstoß ihrer Treibhausgase kleinrechnen können. Es gibt den verpflichtenden Markt, der stark reguliert ist, und den freiwilligen Emissionshandel. Dieser freie Handel hat große Schwachstellen, über die wenig diskutiert wird. Was wird da wirklich geschützt? Der Planet oder die Geschäftsmodelle der Unternehmen? Werden da nicht einfach wieder Besitzverhältnisse zum Vorteil Weniger verändert? Diese Zertifikate steigen im Wert, Wald ist ein Investment, und wie überall, gibt es auch dort Ausbeutung. Linn erträgt es immer weniger, dass existentielle Tatsachen ignoriert werden. Auch hier geht es wieder um fehlende Aufrichtigkeit – und um den Versuch, sich dem zu widersetzen.

Du arbeitest in deinem Roman mit literarischen Bezügen, unter anderem zu norddeutschen Gedichten und Sagen. Auch spielt Henrik Ibsens Theaterstück »Ein Volksfeind« eine Rolle. Welche Bedeutung haben diese Verweise im Roman?

Viele der norddeutschen Geschichten und Mythen haben mit dem Verhältnis von Mensch und Natur zu tun. Da ist zum Beispiel Detlev von Liliencrons Gedicht über die Zweite Marcellusflut 1362, auch De Grote Mandrenke genanntdas große Ertrinken, als in einer Januarnacht ganze Küstenstreifen Norddeutschlands versanken. Beide, Annett und Linn, kennen diese Verse. Der Unterschied aber ist, dass Annett dabei an die Vergangenheit denkt und Linn an die Zukunft. An Ibsens Volksfeind fühlt sich Annett während eines Gesprächs mit Linn erinnert. In dem Stück geht es um den Arzt Dr. Stockmann, der herausfindet, dass das Wasser seines Kurorts durch Industriegifte belastet ist. Es wird Menschen nicht heilen, sondern schaden. Doch anstatt sich ernsthaft mit den Fakten zu beschäftigen und nach Lösungen zu suchen, die sicher aufwändig und unbequem sein werden, beschimpfen die Einwohner den Arzt. Er wird bedroht und ausgegrenzt. Er, der vor den Folgen des vergifteten Wassers warnt, wird von der Gemeinschaft zum Volksfeind erklärt. Annett blickt auf ihre erschöpfte Tochter, auf dieses Ringen um Wahrheit der Tochter, und sie sieht in ihrer Tochter Ibsens Arzt, der die Tatsachen ausspricht und dafür verachtet wird. Das Stück ist von 1882, und wie wir heute sehen, ist es hochaktuell. Für Annett stellt sich die Frage: Wie geht unsere Gesellschaft mit jungen Menschen um, die eine Zukunft für sich fordern? Wie wird über junge Menschen, die einen Berg ungelöster Probleme von uns erben werden, geurteilt und gesprochen?

Wo ist in »Halbinsel« am meisten Licht in Sicht? Was hat dich beim Schreiben mit Hoffnung erfüllt?

Die Stärken von Mutter und Tochter, die beide für sich neu entdecken müssen, bringen das Helle in den Roman. Linns unermüdliche Suche nach Aufrichtigkeit. Annetts Liebe zu ihrer Tochter, mit allen Unsicherheiten und Fehlern. Zu einer jungen Wohngemeinschaft in der Nachbarschaft, die sich dort pragmatisch und solidarisch ein Leben aufgebaut hat, knüpfen Annett und Linn außerdem neue, interessante Verbindungen. Beide, Mutter und Tochter, schaffen einen Aufbruch zu etwas Neuem. Und dann ist da immer wieder die Landschaft, die Weite des Wattenmeers, das Raue und Schöne.

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